Es war einfach zu warm. Mit den Tourenski erst durch den Pappschnee, dann das Getröpfel unter den gefrorenen Gaisalpfällen. Hinter der dünnen durchsichtigen Eiskruste rauschte der Wasserfall, und wenn man die Eisschraube reindrehte, kam das Wasser wie durch einen Zapfhahn gelaufen. Wurscht! Wozu hatten wir auf dem Parkplatz von Chamonix dem Tschechen seine zehn Titanschrauben abgekauft? Um jetzt zu kneifen? „Ich steig das vor, du gehst zur Seite“, sagte Wolfgang und trommelte los. Es war meine erste Eiskletterei und war-m ich zur Seite gehen sollte, verstand ich nicht, fühlte mich aber bald wie eine Limet-e im Caipi-Glas. Wolfgang schaufelte gecrunchtes Eis auf mich, dass der Helm prasselte. Nachdem er bereits 30 Meter weiter oben herumpickelte, plötzlich ein Schrei: Achtung! Ein sausendes Geräusch wie von einem Schrapnell pfiff durch die Luft, ein dumpfer Rumms und neben meinem rech- ten Fuß klaffte ein Krater im Schnee: Ein Eisklotz von etwa 30 Kilo war haarscharf neben mir eingeschlagen. Daher der Rat, beim Sichern zur Seite zu Gehen, aus der Falllinie, aha!

„Das ist rekordverdächtig. Mehr kann man nicht falsch machen“, sagt Beni Purner. Dreißig Jahre nach meinem Wasserfalldebüt sprechen wir über technische Fortschritte und aktuelle Entwicklungen in einem Sport, der früher mal als extrem galt und heute zum populären Trendsport wird, so meine Meinung.

„Das stimmt so nicht. Die Popularität des Eiskletterns hat etwas mit den Eisparks, Übungsparcours, leichten Top-Rope-Anlagen und einfachen kurzen Eispassagen zu tun. Bei den wirklich schwierigen Eiskletterrouten sind die Anforderungen nach wie vor extrem hoch. Das ist und bleibt ein Spitzensport“, sagt Beni Purner.

Ähnlich wie beim Klettern – von der Boulderwand bis zum Free Solo – ist das Anforderungsspektrum beim Eisklettern breit gefächert. Es reicht von der mit Styrodurplatten betackerten Holzwand auf Kindergeburtstagen bis zu überhängenden Mixed- Passagen an freistehenden Kerzen in düsteren Schluchten. Wasserdichte Bekleidung mit gro?ßtmöglicher Beweglichkeit, Mütze, Handschuhe, Klettergurt, steigeienfeste Bergschuhe, starre Steigeisen mit Frontalzacken und Stollschutzplatten, zwei Eisgeräte – und schon kann es im einfachen Gelände losgehen. Wer eigenständig in der Natur an gefrorenen Wasserfällen unterwegs ist, benötigt noch ein Doppelseil, etlihe Eisschrauben, Expressschlingen, Helm, Rucksack, Gamaschen – und die Ausrüstung für den Zustieg wie Schneeschuhe oder komplette Tourenskiausrüstung kommt auch noch dazu. Die Liste ist nicht nur lang, die Ausrüstung geht auch mächtig ins Geld, denn die meisten Produkte müssen höchsten Qualitäts- und Sicherheitskriterien gerecht werden, um die Prüfsiegel für den freien Verkauf im Fachhandel zu erhalten. Alles soll möglichst leicht und leistungsfähig sein. Da lohnt sich die Teilnahme an Eiskletterkursen mit Leihausrüstung.

„Wer vom Eisklettern fasziniert ist, sollte an einem Kurs teilnehmen. Viele Alpinschulen bieten das an und haben die entsprechende Kompetenz und optimale Ausrüstung. Für ein oder zwei Touren pro Jahr muss man nicht Tausende ausgeben. Eisklettern ist auf jeden Fall reizvoll, kann aber im leichten Gelände auch fad werden, weil man ja nicht wie beim Klettern Griffe und Tritte lang suchen muss. Der erste Schritt: Man lernt mit Gefühl und sauberer Steig- und Schlagtechnik die vertikale Fortbewegung und sollte das bis zur Perfektion einüben. Der nächste Schritt wäre nach der künstlichen Eisanlage der Weg in die Natur, in leichtes Gelände, um ein Gefühl für Eisstrukturen zu bekommen, für die Einstrahlung und die Tempera tur – die drei lebenswichtigen Faktoren beim Eisklettern“, erklärt Purner.
Sehr eindringlich erklärt Purner den Um- gang mit den drei Faktoren. Ideale Bedingungen herrschen, wenn die Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt liegen, die Route keine Sonne bekommt und die Eisauflage sehr dick und kompakt ist. Kurzfristige Plusgrade, auch nur knapp über dem Gefrierpunkt, setzen voraus, dass die anderen beiden Faktoren zwingend passen müssen, also perfekte Eisstruktur und nur Schatten. Ist die Eisstruktur schlecht, brüchig, blasig, hohl, unterspült, dünn – dann muss es zumindest sehr kalt und schattig sein, damit die Route überhaupt in Betracht kommt. Liegt die Route in der Sonne, muss es kalt sein, und die Eisstruktur muss stimmen. Kurzum, wer bei Plusgraden in brüchiges Eis einsteigt, spielt russisches Roulette. Soweit die Theorie. Bis die Beurteilung in der Praxis so gut funktioniert, dass man sich eigenständig in schwierigeres Gelände vorwagen darf, sind etliche Kurse und regel- ma?ßiger Sport nötig.

Wir trugen die Eisklettergeräte früher immer mit Handschlaufen. Was ist daraus geworden? „Die nutzt keiner mehr. Eisklettern kann ab einer gewissen Schwierigkeit auch akrobatische Elemente enthalten, die Griffwechsel erfordern. Das muss schnell gehen. Auch das Ausschütteln der Arme wird durch Griffschlaufen erschwert“, erklärt Purner. Dann sind die Geräte nicht gesichert und können runterfallen? „Um Himmels willen, nein. Es gibt flexible Sicherungsgurte mit Karabinern wie die Spinner leash. Der Verlust des Eisgeräts wäre der Supergau!“ Anders ausgedrückt, fällt die Axt, brennt der Baum. „Gibt es überhaupt Unfälle beim Eisklettern?“, fragen wir Purner, der auch Mitglied der Bergrettung Tirol ist.

„Wir haben es bei der Bergrettung vor allem mit Folgen der Selbstüberschätzung und mangelnder Erfahrung zu tun. Der Rückzug aus einem gefrorenen Wasserfall oder einer Mixed-Route ist anspruchsvoll, steile Passagen sind kraftraubend. Wer sich nur dreimal pro Jahr ins Steileis wagt, hat in schweren Routen nichts verloren. Selbst wenn er das Glück hat, unversehrt die Route zu durchsteigen, ist das mit soviel Angst und Schmerzen erkauft, dass die Freude an dem Sport verschwindet. Eisklettern sollte weder zum Martyrium noch zum Himmelfahrtskommando ausarten“, sagt der Tiroler Bergführer.

Warum ihn der aufwendige Wintersport – Ausrüstung, Verhältnisse, entlegene Routen – so fasziniert, dass er bis nach Island reist, kann er in eindrucksvollen Bildern verdeutlichen. „Die Vergänglichkeit der Eisrouten, die Zerbrechlichkeit der Substanz ist der krasse Gegensatz zum Fels. Du kannst niemals dieselbe Route zweimal klettern. Es ist ein einmalige Erlebnis in einer grandiosen, bizarren Umgebung, das wie ein Solitär in deiner Erinnerung leuchtet.“


Einstieg ins Eisklettern:
Ausrüstung zum Eisklettern

• Helm
• Gurt mit 4 Materialschlaufen
• Steigeisen mit Antistollplatten
• Eisgeräte ohne Handschlaufen
• Hochwertige Eisschrauben in verschiedenen Längen
• Materialkarabiner für die Eisschrauben
• Expressschlingen
• Spinner leash für die Eisgeräte
• Lange Bandschlingen zum Standbauen und zum Verlängern von Zwischensicherungen zur besseren Seilführung
• Verschlusskarabiner für den Stand
• Sicherungs- und Abseilgerät, zum Sichern mit Doppelseil im Vor- und Nachstieg und zum Abseilen
• 1 Sanduhrfädler für evtl. Rückzug
• Zwei Halbseile, am besten 60 m
• Ein Paar dünne Handschuhe zum Klettern und ein Paar warme zum Sichern
• Stirnlampe, Rucksack, steigeisenfeste Bergschuhe, Messer, Reepschnüre, warme, wasserdichte Bekleidung, dünne Mütze oder Sturmhaube, die unter den Helm passt 
• Ansonsten die übliche Standardsausrüstung wie bei allen alpinen Touren wie Erste-Hilfe-Set, Verpflegung etc. 

Literatur
Kein Bergsport lässt sich durch Bücher erlernen. Kurse bei Alpinschulen oder in Alpenvereinsgruppen sind der perfekte Einstieg. Dennoch helfen gute Nachschlagewerke, das Wissen zu vertiefen:
Philippe Batoux: Eisklettern: Ausrüstung und Technik, Tourenplanung, Sicherheit. 112 S., Delius Klasing Verlag
Andreas Dick und Peter Geyer:
Hochtouren – Eisklettern: Alpin- Lehrplan Band 3, 224 S., BLV-Verlag Will Gadd: Lehrbuch Eisklettern. 232 S., Panico Alpinverlag